Prof. Dr. Heike Schweitzer
Humboldt-Universität zu Berlin
Haus zur lieben Hand, Löwenstraße 16, 79098 Freiburg
Das Problem der privaten Macht im digitalen Zeitalter
Die Referentin
Prof. Dr. Heike Schweitzer ist Professorin für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht und Ökonomik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2014 bis 2018 war sie Professorin an der Freien Universität Berlin, zuvor an der Universität in Mannheim (2010-2014) und am EUI in Florenz (2006-2010). Ihre Forschungsschwerpunkte sind das deutsche und europäische Wettbewerbsrecht sowie der Rechtsvergleich mit dem U.S. Antitrust-Recht, das europäische Wirtschafts- und Wirtschaftsordnungsrecht, das Beihilfenrecht sowie das Recht der digitalen Wirtschaft. Sie ist Mitglied des Kronberger Kreises (seit 2014) und war Ko-Vorsitzende der Regierungskommission „Wettbewerbsrecht 4.0“ (bis September 2019). Von April 2018 bis März 2019 war sie Sonderberaterin der EU Kommissarin Vestager für Digitalisierung und Wettbewerbspolitik.
Zusammenfassung
Einen Tag nach dem 125. Geburtstag von Franz Böhm, am 17. Februar 2020, hielt nach Ernst-Joachim Mestmäcker und Christoph Engel die jüngste Böhm-Schülerin Heike Schweizer die 3. Franz-Böhm-Vorlesung. In ihrem Vortrag beleuchtete Schweitzer die Besonderheiten und Problemstellungen von privater Macht in Zeiten der Digitalisierung. Dabei fragte sie, ob ein Rückgriff auf Franz Böhm für das Verständnis und die Bearbeitung von aktuellen Herausforderungen behilflich sein kann.
Ihre Überlegungen gliederte Schweitzer in dem Vortrag in drei Teile: Nachdem sie eingangs die Doppelgesichtigkeit des Machtproblems aus Böhm’scher Perspektive betonte – Böhm hat sich sein Leben lang sowohl mit dem Problem staatlicher wie auch mit dem Problem privater Macht befasst – zeigte Schweitzer in einem ersten Teil die Besonderheiten der privaten Macht im digitalen Zeitalter auf und verglich sie mit den bislang im Vordergrund stehenden Machtlagen. Im Anschluss erläuterte sie ihre These, dass sich aufgrund dieser Besonderheiten der Mechanismus dezentraler Koordination selbst verändere. Dies habe wiederum zur Folge, dass sich eine Marktorganisation mit neuen Regeln entwickle. Abschließend ging Schweitzer auf die Implikationen ein, die sich für ein Wettbewerbsrecht ergeben.
Besonders in drei Charakteristika weist die Digitalökonomie Besonderheiten auf: Plattformen, Daten und ihre Verarbeitung sowie digitale Ökosysteme. Obwohl jedes dieser Elemente bereits bekannt ist, führen ihr Zusammenspiel und ihr Umfang in der Digitalökonomie zu neuen Problemstellungen für die Wettbewerbspolitik.
Die Plattformen von Großkonzernen wie Google, Facebook und Amazon sind im Internet essentiell, um die vielfältigen Informationen zu strukturieren und für den Verbraucher nutzbar zu machen. Diese „Plattformmärkte“ sind aber aufgrund von Größenvorteilen durch Netzwerkeffekte – der Komfort einer Plattform steigt mit der Anzahl der Nutzer – und datengetriebenen Verbundvorteilen häufig stark konzentriert. Ein neuer Marktteilnehmer muss so nicht nur eine bessere Qualität und/oder einen niedrigeren Preis bieten, sondern muss die Nutzer auch dazu bewegen, in großem Umfang auf seine Plattformen zu migrieren. Ausweichchancen für Nachfrager verschwinden dadurch. In der Folge ist es nicht mehr die Nachfrage, die das Angebot und damit die Marktentwicklung steuert. Vielmehr werden Angebot und Nachfrage nach Maßgabe der Plattforminteressen zusammengeführt. Große Plattformen können damit – ggfs. auch marktübergreifend – Steuerungsmacht erlangen.
Die Verfügbarkeit von Daten und deren Verarbeitung lassen in der Digitalökonomie eine stärkere Individualisierung von Produkten und Dienstleistungen zu. Dies kann zu einem Verlust des Schutzes führen, den Verbraucher aufgrund des aktiven Suchverhaltens anderer Nachfrager in anonymen Wettbewerbsmärkten auch dann genießen, wenn sie selbst eher zu den passiven Nutzern zählen. Aufgrund von dateninduzierten Verbundvorteilen können Anbieter mit großem Datenschatz Wettbewerbsvorteile auf einer Vielzahl von Märkten genießen. Personenbezogene Daten sind potenziell von marktübergreifender Wettbewerbsrelevanz.
Verbundvorteile werden nicht zuletzt in der Schaffung digitaler Ökosysteme realisiert. So erfordern beispielsweise App-Stores einen großen Zugriff auf Kundendaten. Die Auswertung dieser Daten lässt eine Profilbildung und Verhaltensvorhersage zu, die über die Grenzen von einzelnen Märkte hinausreichen. Die Logik separierter Märkte ist damit in solchen Fällen überholt – die unternehmerische Strategie ist von vornherein marktübergreifend angelegt – und es kann zu verstärkten Marktzutrittsschranken kommen.
Was aber bedeuten all diese Besonderheiten der Digitalökonomie für die Marktorganisation? Befinden wir uns in einer 4. Industriellen Revolution? Schweitzer hielt fest, dass die Veränderungen im digitalen Zeitalter den Marktmechanismus fundamental beeinflussen würden. Während ein idealer Markt aus einem neutralen Mechanismus besteht, der basierend auf neutralen Rechtsregeln das Anbieterverhalten nach Maßgabe der Nachfragerpräferenzen steuert („unsichtbare Hand“), ist der Marktmechanismus, wie er sich über die neuen digitalen Marktplätze realisiert, ein Ausfluss der digitalen Design-Entscheidungen und Regeln, welche die Plattformen nach Maßgabe ihrer Eigeninteressen implementieren. Die „sichtbare Hand“ der Plattform tritt an die Stelle der „spontanen Ordnung“ – auch wenn die Regeln, denen die „sichtbare Hand“ folgt, häufig von außen nicht erkennbar sind („blackbox“).
Auch die Daten selber verändern den Marktmechanismus erheblich. Während bisher die Informationsanforderungen in anonymen Austauschverträgen typischerweise auf den Vertragsgegenstand begrenzt waren, verfügt in Zeiten der Digitalisierung der Anbieter zusätzlich über weitreichende Informationen über die Präferenzen und Verhaltensmuster von individuellen Verbrauchern. Diese Informationen können genutzt werden, um Leistungen und Preise zu personalisieren. Welchen Wert personenbezogene Daten für ein Unternehmen haben, ist den Verbrauchern allerdings unbekannt – auch dort, wo sie mit Daten „bezahlen“, also im Gegenzug für die Bereitstellung einer Leistung in die Datennutzung einwilligen. Die Steuerungswirkung beim Bezahlen mit Daten unterscheidet sich stark von derjenigen von Geld als Zahlungsmittel. Im Gegensatz zu Geld gibt es bei den auf sie bezogenen Daten für Verbraucher weder Knappheit noch Opportunitätskosten und es fehlt die Transparenz über die Folgen der Einwilligung. Der „Datenpreis“ wird daher nicht durch Wettbewerb kontrolliert.
Abschließend beleuchtete Schweitzer neue Herausforderungen des Wettbewerbsrechtes in Bezug auf die Digitalökonomie. Da die geschilderten Probleme in ihrem Umfang neu sind, sind Böhms konkrete Anschauungsbeispiele des Problems privater Macht nur eingeschränkt übertragbar. Die Digitalökonomie hat ein anteilig neuartiges Machtproblem hervorgebracht. In Deutschland und Europa wird das durch Plattformen wie Google, Facebook oder Amazon aufgeworfene Machtproblem – also die Herausforderung für die Funktionsfähigkeit der Privatrechtsgesellschaft – allerdings zum Teil mit der industriepolitischen Problemstellung verknüpft: Der Staat müsse zentral steuernd eingreifen, um die Wettbewerbsfähigkeit deutscher bzw. europäischer Unternehmen zu sichern. Dann allerdings wird das Problem staatlicher Macht in einer Weise gelöst, welche das Problem staatlicher Macht in neuer Weise heraufbeschwört.
Nach Böhm’scher Konzeption, die an Aktualität nicht verloren hat, muss es stattdessen vor allem darum gehen, die Funktionsfähigkeit der Privatrechtsgesellschaft unter Bedingungen einer neuen Informationsordnung zu gewährleisten. Angepasste Wettbewerbsregeln und Regulierungen reichen hierfür nicht aus. Benötigt werden neue Privatrechtsregeln und neue Institutionen, wie zum Beispiel Datentreuhändler, die Daten anonymisieren können und gleichzeitig mit kollektiver Handlungsmacht ausgestattet sind.
Der Auftrag, die Privatrechtsgesellschaft zu erhalten, bleibt somit aktuell. Während es zu Böhms Zeiten hierfür vor allem der Abschaffung von Beschränkungen der Wettbewerbsfreiheit bedurfte, muss heute die Privatrechtsordnung angepasst werden, um auf die Veränderung der Märkte durch neue Technologien und unternehmerische Strategien zu reagieren.
Der Böhm’sche Kompass ist dabei jedoch nicht überholt. Lösungen sind auch heute in Auseinandersetzung mit dem Doppelproblem von privater und staatlicher Macht und mit dem Ziel einer funktionsfähigen Privatrechtsgesellschaft zu suchen.
Verleihung der Walter-Eucken-Medaille
an Prof. em. Dr. Dr. h. c. Wernhard Möschel
(Universität Tübingen und Vorstand des Walter Eucken Instituts)
Laudatio: Prof. Dr. Dr. h. c. Lars P. Feld (Direktor des Walter Eucken Instituts)
Das Walter Eucken Institut und der Aktionskreis Freiburger Schule verleihen Wernhard Möschel die
Walter-Eucken-Medaille für seinen herausragenden Beitrag zur Weiterentwicklung des ordnungsökonomischen Forschungsprogramms in der Tradition der Freiburger Schule und für die langjährige, maßgebliche Unterstützung, die er dem Walter Eucken Institut als Vorstandsmitglied gewährt hat.
Der Preisträger
Prof. em. Dr. Dr. h. c. Wernhard Möschel (*1941) studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Münster, München und Genf. Nach dem juristischen Staatsexamen wurde er 1967 bei Ernst-Joachim Mestmäcker an der Universität Münster zum Dr. jur. promoviert; seine Habilitation erfolgte 1972 an der Universität Bielefeld. Von 1973 bis 2009 war er ordentlicher Professor für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Europarecht und Rechtsvergleichung an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. 1987/88 war er Visiting Professor beim IWF in Washington, D.C.
Wernhard Möschel war Mitglied in verschiedenen Beratungsgremien und Kommissionen wie der Monopolkommission und gehört seit 1987 dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie an.
Von 1984 bis 2012 war Wernhard Möschel Mitglied im Kronberger Kreis. Seit 1994 ist er Mitglied der New York Academy of Sciences; von 2002 bis 2010 war er Senator der Leibniz-Gemeinschaft.