Dr. Judith Niehues
Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln
Aula der Universität Freiburg, KG I, Platz der Universität 3, 79098 Freiburg
Zum Vortrag
Am 3. und 4. Februar 2020 hielt Dr. Judith Niehues, Wirtschaftswissenschaftlerin am IW Köln, auf Einladung des Aktionskreises Freiburger Schule und des Walter Eucken Instituts in Freiburg und Lörrach einen Vortrag zum Thema „Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit in Deutschland – Zwischen Wunsch, Wahrnehmung und Wirklichkeit“. Darin setzte sie sich mit Fragen auseinander, die in der öffentlichen Debatte intensiv, häufig sogar emotional, diskutiert werden. Ziel des Vortrags war es deshalb, die regelmäßig zitierten Daten näher zu durchleuchten und Stärken und Schwachstellen verschiedener Datenreihen zu betrachten. Darüber hinaus präsentierte Judith Niehues ausgewählte Ergebnisse aus ihrer eigenen Forschungsarbeit zur empfundenen Ungleichheit und zu Forderungen und Wünschen, wie mit dieser sozialen Ungleichheit umzugehen sei.
Zu Beginn des Vortrags ging die Referentin auf die subjektiv wahrgenommene Ungleichheit und sozialer Gerechtigkeit in Deutschland ein, wie sie regelmäßig in verschiedenen Leitmedien betitelt und diskutiert wird. Ausgehend von diesen Schlagzeilen ging Frau Niehues näher auf die am häufigsten verwendeten Datensätze zur Messung von Ungleichheit ein. Sie zeigte die Stärken dieser Datensätze wie beispielsweise des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) auf. Darüber hinaus sprach sie ausgewählte statistische Messprobleme an, die bei der Auswertung der Daten zu beachten seien sowie die Bedeutung des Kompositionseffekts bei der Interpretation von zeitlichen Trends. Diese teilweise komplexen Problemstellungen machte Judith Niehues für die Zuhörer durch eingängige Beispiele gut verständlich.
Anschließend konzentrierte sich die Referentin auf die Einkommens- und die Vermögensungleichheit in Deutschland. Anhand des Gini-Koeffizienten zeigte Sie, dass die Einkommensungleichheit in Deutschland gemessen an den Nettoeinkommen (also nach Abzug von Steuern und Verteilung von Transfers) im internationalen Vergleich relativ niedrig ist. Vor der Umverteilung durch Steuern und Transfers sind die Einkommen in Deutschland allerdings deutlich ungleicher verteilt. Diese Art der Umverteilung führt dazu, dass die Ungleichheit in Deutschland um 42% reduziert wird. Nur fünf OECD Staaten schaffen durch ihr Steuer- und Sozialsystem eine höhere Ungleichheitsreduktion. Seit 2005 ist die Einkommensungleichheit in Deutschland trotz des deutlichen konjunkturellen Aufschwungs nahezu unverändert. Trotzdem hält Judith Niehues diese Entwicklung angesichts der auch in diesem Zeitraum weiter zunehmenden globalen Arbeitsteilung und der veränderten Bevölkerungsstrukturen für einen positiven und bemerkenswerten Befund – insbesondere vor dem Hintergrund der mehrheitlichen Wahrnehmung in der Bevölkerung, dass sich die Einkommensunterschiede auch in den letzten Jahren weiter verstärkt haben.
Bei der Darstellung der Vermögensverteilung verwies Frau Dr. Niehues ebenfalls auf zahlreiche Einflussfaktoren, die eine nähere Analyse der häufig publizierten Daten erfordern. So ist die Vermögensungleichheit in Deutschland, teils damit zu begründen, dass Rentenanwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung nicht zum Vermögen dazugerechnet werden. In einem Land ohne ein solches Rentensystem hätten die Arbeitnehmer während der Erwerbsphase höhere Nettoeinkommen und müssten diese stärker zum Vermögensaufbau zur privaten Altersvorsorge nutzen. Des Weiteren begünstigen die zahlreichen familiengeführten Unternehmen in Deutschland die statistische Vermögensungleichheit. Wären diese Familienunternehmen als Aktiengesellschaften im Streubesitz vieler Shareholder, könnte die Vermögensungleichheit einerseits zwar abnehmen. Andererseits agieren Familienunternehmen häufig nachhaltiger als börsennotierte Unternehmen, weisen eine geringere Mitarbeiterfluktuation auf und sind stärker im ländlichen Raum verankert, was insbesondere vor dem Hintergrund regionaler Disparitäten positiv zu bewerten ist. Darüber hinaus wies Judith Niehues darauf hin, dass bei Vermögensunterschieden auch Lebenszykluseffekte zu beachten seien, da Vermögen im Laufe eines Erwerbslebens aufgebaut wird und selten schon zu Beginn vorhanden ist. Während das Nettomedianvermögen eines 16- bis 24-jährigen 4.500 Euro beträgt, liegt der Medianwert bei den 55- bis 60-jährigen bei 180.900 Euro.
Abschließend präsentierte Frau Dr. Niehues ausgewählte Forschungsergebnisse zur wahrgenommenen Ungleichheit. Hiernach hat nur ein geringer Anteil befragter Personen persönliche Sorge um seinen Arbeitsplatz und in den letzten Jahren haben immer weniger Menschen das Gefühl, nicht ihren gerechten Anteil am Lebensstandard zu erhalten. Beim Blick auf die Gesellschaft skizziert die Mehrheit der Befragten hingegen ein düsteres Bild. Gemäß verschiedener Umfragen halten rund 80% der Befragten die Ungleichheit für zu hoch. Unter Berücksichtigung dieses Paradoxons sind auch die Forderungen und Wünsche vieler Befragter zu verstehen. Nur selten wird ein Ausbau bedarfsorientierter Sozialleistungen gefordert. Die Mehrheit der Befragten möchte ein leistungsgerechtes Entlohnungssystem und andere Maßnahmen von denen häufig mittlere und obere Einkommensschichten profitieren würden, weniger die unteren.
Die Referentin
Dr. Judith Niehues (*1982) ist Leiterin der Forschungsgruppe Mikrodaten und Methodenentwicklung am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln.
Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre 2002 bis 2007 an der Universität zu Köln und der San Diego State University in den USA folgte ein Promotionsstudium im Graduiertenkolleg SOCLIFE an der Universität zu Köln und eine Position als Research Affiliate im Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA). Anschließend wurde Judith Niehues bei Prof. Dr. Clemens Fuest und Prof. David A. Jaeger, PhD mit einer Doktorarbeit über Einkommensungleichheit und staatliche Umverteilung promoviert.
Seit 2011 forscht sie am IW Köln, wo sie bis Mai 2017 Senior Economist im Kompetenzfeld „Öffentliche Finanzen, Soziale Sicherung, Verteilung“ war und seit 2015 bzw. 2017 Leiterin der Forschungsgruppe Mikrodaten und des Bereichs Methodenentwicklung ist. Judith Niehues arbeitet hauptsächlich zu den Themen Einkommens- und Vermögensverteilung sowie zu subjektiven Verteilungsbewertungen.